Jo Nesbø: Durst

Über 600 Seiten pure Spannung mit Harry Hole

Was macht Jo Nesbøs Kriminalromane so unwiderstehlich und erfolgreich? Auf der Suche nach einer Antwort bietet der 11. Fall von Harry Hole eine gute Gelegenheit.

nesbo_durstDiesmal geht es um einen Serienmörder mit vampiristischer Neigung. Die Opfer sind hauptsächlich weiblich und es fließt sehr-sehr viel Blut. Mitglieder einer Onlinedating-Gemeinde geraten in Gefahr, der Mörder bedient sich aus den Reihen der Anwender. Die kritische Stellungnahme des Autors ist unmissverständlich: Die Feststellungen zur romantischen Illusion der online organisierten Liebe klingen sehr abwertend und ernüchternd. Hervorgehoben werden die starke Abhängigkeit, der Leichtsinn und die Sehnsucht nach Selbstbestätigung, ohne dabei die mögliche Gefahr zu erkennen.

Jo Nesbø beweist sehr große Sicherheit beim Umgang mit der Sprache. Das wertet „Durst“ enorm auf, der Schreibstil ist – wie der knappe Titel auch – schlicht und effizient.

Da der Autor seine Geschichte nicht lediglich auf die Wiedergabe von Gräueltaten beschränkt, bleibt die geschilderte Brutalität zwar nachvollziehbar, doch gewissermaßen zurückhaltend.

Die Ereignisse werden sachlich und verwirrender weise aus mehreren Blickwinkeln betrachtet. Doch wer könnte der Täter und wer das Opfer werden? Bis zuletzt gelingt es dem Autor leicht, die Leser reinzulegen, er bewegt dazu, die Situationen immer wieder aufs Neue zu überdenken.

Die Protagonisten sind Alltagshelden, die man leicht akzeptiert, sie sind durchaus nicht fehlerfrei und leben in einer allen vertrauten Normalität: Sie meistern ihren Job und verarbeiten ihre alltäglichen Sorgen. Der legendäre Kommissar Harry Hole glänzt demzufolge nicht immer durch Perfektion. Kriminalkommissarin Katrine Bratt liefert Frauenpower, der junge Ermittler Anders Wyller, mit dem schiefen Grinsen und scharfen Verstand ist sofort sympathisch, Kommissar Truls Berntsen mutiert schnell zur Witzfigur. Schlagfertige Dialoge mit ironischem Unterton lockern die derben Scherze über den blutüberströmten Leichen auf. Die Spannung ist nicht nur im Laufe der Geschichte, sondern auch zwischen den Protagonisten gegenwärtig.

Nicht zuletzt werden die Leser durch Oslo gelotst. Die detaillierten Wegbeschreibungen wirken realistisch und führen durch die norwegische Hauptstadt und durch die nähere Umgebung.

Insgesamt verspricht dieser Kriminalroman auch literarisch gesehen besondere Momente mit dunklen Geheimnissen, mit melancholischen Zwischensequenzen und mit einem scharf gezeichneten Gesellschaftsbild – kritisch und intelligent, mit präziser Ausdrucksweise. Anspruchsvoller Lesespaß für alle: Der Einstieg in die Harry-Hole-Serie ist auch mit Band 11 problemlos möglich.

 

„Schweigend betrachteten sie den Leichnam. Wie ein junges Paar in einer Kunstausstellung, das überlegt, mit welchen Gedanken der andere zu beeindrucken wäre…“

 

 

This entry was posted in LESESTOFF and tagged , , , , , . Bookmark the permalink.

Comments are closed.