Amon – Mein Großvater hätte mich erschossen

Tiefgründig, einfühlsam und hoffnungsvoll – von Jennifer Teege

Wie lebt man weiter, wenn ein düsteres Familiengeheimnis plötzlich ans Tageslicht kommt und es sich herausstellt, dass ein naher Angehöriger im zweiten Weltkrieg als einer der berüchtigtesten Kriegsverbrecher galt?

Leicht wäre es zu denken, dass man sich für die Taten von anderen nicht verantwortlich machen sollte. Ein intelligenter und einfühlsamer Mensch – wie die Autorin, Jennifer Teege – kann jedoch diese Tatsache nicht hinnehmen. Die Wahrheit über den Großvater herauszufinden ist für sie ein schockierendes Erlebnis. Die düstere Vergangenheit zerstört die eingespielte, idyllische Ruhe ihrer Gegenwart.

Anfangs zwar von Depressionen geplagt stellt sie sich kurz darauf den Herausforderungen der neuen Lebenslage und arbeitet daran, alles zu erfahren, zu verstehen oder zumindest akzeptieren zu können.

Sie wagt sich an den „Tatort“ in Polen, wo im Zweiten Weltkrieg Amon Göth, der Großvater, ein Konzentrationslager führte und informiert sich. Sie sammelt die Bruchstücke ihrer Familiengeschichte und wird ständig mit der Verwüstung konfrontiert, die er einst verursachte und die mittlerweile über zwei Generationen bis in die heutige Zeit hinauswirkt. Schließlich wird ihr klar, dass ihr Großvater auch für sie kein Verständnis gezeigt hätte und dass er sie letztendlich mit großer Wahrscheinlichkeit der damaligen Ideologie geopfert hätte. Der Ausdruck „Massenmörder“ und der Untertitel „Mein Großvater hätte mich erschossen“ zeugen von der brutalen seelischen Belastung ihrer plötzlichen Entdeckung.

Jennifer Teege beweist ihr Leben lang Kampfgeist. Ihr Schicksal ist auch ohne den mordlustigen Großvater außergewöhnlich. Von der Mutter verstoßen, in der Jugend wegen der dunklen Hautfarbe verspottet bewältigt sie die Turbulenz der Kinderjahre. Das Glück verlässt sie nie, selbst wenn sie dafür zu der Zeit noch keine Augen hat: Unter Aufsicht von liebevollen Adoptiveltern bekommt sie eine Chance auf ein normales familiäres Leben. Ohne die Sicherheit der „Ewigkeit“, wie sie es damals fühlt. Für sie scheint die Bindung zur Pflege- beziehungsweise später Adoptivfamilie zerbrechlicher zu sein, als die zu wahren Blutverwandten. Aber wem wird schon die völlige Sicherheit und Verborgenheit je versprochen?

Dass Jennifer Teege ihre wahre Identität vorenthalten wurde ist eine Tatsache, die genauso unveränderbar ist, wie die Grausamkeiten des Krieges.

Nun, wie die Autorin es auch selbst formuliert, Erbschuld gibt es nicht.

Ihre Erfahrungen niederzuschreiben und sich vor einem breiten Publikum zu öffnen, befreit sie immer mehr vom Leid des späten Erben. Ihr beispielhafter Weg ist gleichzeitig der Weg der Heilung. Kapitel für Kapitel mischt sich immer mehr Hoffnung in ihre Gedanken und schließlich wird sie belohnt: Sie bekommt das denkbar größte Geschenk, die Möglichkeit, mit den nachfolgenden Generationen der Opfer Frieden zu schließen.

Nur wer so viel Stärke und Mitgefühl zeigt, kann so ein schweres Schicksal verarbeiten und die eigene Rettung meistern. Jennifer Teege schrieb ein tiefgründiges Buch, das Aufmerksamkeit und Respekt verdient.

 

Und noch eine Bemerkung zum Schluß. Der Name Amon, der Titel des Buches.

Mit dem Untertitel steht er im starken Kontrast. Wenn man von der lateinischen Redensart „nomen est omen“ ausgeht, scheint der Gegensatz völlig verwirrend zu sein. Wie kann jemand, mit einem derart edlen Namen wie „Amon“ so entgleisen?

Die Familientradition, die den männlichen Nachkommen den mächtigen Namen über mehrere Generationen geben ließ, stützte sich vermutlich auf die schätzenswerte Bedeutung und auf die Abstammung des Namens von der ägyptischen Gottheit Amun (oder Amun-Re): Der Beschützer (der Armen), der für Gerechtigkeit sorgt.

Amon Göth verkörperte jedoch ein völlig anderes Wesen.

Eine andere Eigenschaft des Namensgebers beherrschte sein Leben und diese wurde gewissermaßen – leider im negativen Sinne – auch sein Schicksal: „Herr des unsichtbaren, alles belebenden Lichthauchs“.

Er herrschte und löschte die Lebenslichter aus.

 

 

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