Tracy Rees: Die Reise der Amy Snow

Ein romantisches Märchen mit facettenreichen Frauenfiguren

Tracy Rees Romandebüt überrascht sowohl mit der Themenwahl als auch mit dem Schreibstil. Gleich nach den ersten Seiten taucht man ins viktorianische Zeitalter ein – ohne den Wunsch auf eine Rückkehr ins 21. Jahrhundert. Die Geschichte fesselt von Anfang an, ihre vollkommene, verträumte Sprache erinnert an die Brontë-Schwestern und Jane Austen. Man fragt sich andauernd, wie die Autorin diese etwas altmodische, dennoch wunderschöne Wortwahl so perfekt treffen konnte.

Die Erzählung geht um ein oft behandeltes Thema: Frauenschicksal nach einer überwiegend unglücklichen Kindheit. Die Tragödie von Amy Snow Anfang des 19. Jahrhunderts kann man als großes Unglück sehen. Man kann sie ebenfalls als Glück betrachten, schließlich wird das ausgesetzte Baby (es handelt sich um die Titelfigur, Amy Snow) gerettet. Ihr Leben wird durch die Liebe ihrer Retterin erhalten und erleichtert. Dabei wächst Amy Snow unter demütigenden Umständen auf, als Geduldete. Ihre Retterin, die lediglich acht Jahre ältere Aurelia Vennaway, schließt sie dennoch ins Herz und genießt ihre Gesellschaft. Aurelia ist sehr großzügig und anders als ihre restliche, äußerst wohlhabende Familie, die Vennaways. Sie missachtet das Reichtum und die Hierarchie des Geburtsrechts. Ihre Gesundheit ist dennoch leider schwach. Als Aurelia stirbt, hinterlässt sie eine ungewöhnliche Erbschaft. Amy Snow muss sich auf eine Schatzsuche begeben. Aurelia lotst sie mit ihren früher verfassten Briefen (über den Tod hinaus) – vorerst nach London und sie verspricht ihr weitere Anweisungen, bis sie ihr Ziel erreicht.

Amy Snow ist eine wundervolle Romanfigur. Sie ist klug und sehr selbstbewusst. Ihre geheimnisvolle Suche nach der Wahrheit verspricht eine anspruchsvolle Unterhaltung. Sie erlebt dabei Abenteuer, die für eine Frau zu der gegebenen Zeit unwahrscheinlich zu sein scheinen. Die junge Dame im Mittelpunkt kämpft sich durch England des 19. Jahrhunderts. Sie wird mit erstarrten Konventionen konfrontiert und kommt nur dank ihrer Charakterstärke und Entschlossenheit voran. Ihre Reise – trotz Zwiespalt, Verzweiflung und trotz schwierigen Lernprozessen – ist gleichzeitig eine wundervolle Selbsterkennung.

Eine edle Wortwahl, detailreiche Beschreibungen und eine spannende Geschichtsführung machen diese Lektüre sehr attraktiv. Nicht zuletzt erschafft die gelungene Übersetzung aus dem Englischen (von Elfriede Peschel) eine besondere Atmosphäre.

 

ISBN 978-3-471-35136-9

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